Eine grossartige Etappe der Tour de France

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Einführung
Vor zwei Tagen erst war der Tross der Tour de France auf der gleichen Strecke gerollt, die ich am heutigen Tage zu bewältigen hoffte. Ausser der gleichen Streckenführung und der Tatsache, dass generell gleich viele Räder pro Akteur involviert waren, sind die Übereinstimmungen klein. Bei den Fahrern der Tour ist selbstverständlich alles auf optimale Leistung getrimmt: Ultraleichte Velos und Komponenten, individuell auf die jeweiligen Steigungen in der Etappe angepasste Gangschaltungen, ausgetüftelte Nahrung und Nahrungszusätze, sportärztliche Betreuung bis hin zu frisch ausgetauschtem Blut sollen für ein gutes Abschneiden in den verschiedensten Klassementen sorgen. Wie Sie sicher schon bemerkt haben, stehe ich dem heutigen Radsport sehr kritisch gegenüber und frage mich mittlerweile auch aus rein wissenschaftlichem Interesse, mit welchen Mitteln und Mittelchen vergangene, gegenwärtige und zukünftige Grössen dieses Schaugeschäftes hantierten, hantieren oder zu hantieren gedenken, um für kurze Zeit an der Spitze der Prominenz zu stehen.
Trotz der allgemeinen Misère scheint die Grande Boucle noch eine enorme Ausstrahlung und Anziehungskraft auszuüben. Jedenfalls wimmelte es auf diesem Abschnitt meiner Tour nur so an Hobbyrennfahrern, namentlich aus den Niederlanden und Germanien, welche ihren Idolen, oder sind es vielmehr «Ritter von der traurigen Gestalt?», nachzueifern schienen.

Tagebuchausschnitte
Col de l'Iseran, Altitude 2770 m.s.l.m.
Mit dem beachtlichen Programm, welches für den heutigen Tag angesagt war, musste ein frühes Aufbrechen noch vor Anbruch des Tages in Kauf genommen werden. Bald einmal zeichnete sich ab, dass ein wunderschönes Wetter herrschen würde und mit jedem Höhenmeter kam man der wärmenden Sonne ein Stücklein näher. Beim Erreichen der ersten Geländestufe beim Belvedère de la Tarantaise waren die umliegenden Berge bereits ins schönste Sonnenlicht getaucht, während der Talgrund der Isère mit dem gleichnamigen Hauptort Val d'Isère noch im dämmrigen Schatten lag. Danach wandte sich die Strasse vom Tal ab und die Landschaft in der unmittelbaren Nähe der Passstrasse wurde recht karg. Kurz vor den letzten Kurven im Aufstieg wurde ein kleines Plateau erreicht auf welchem ein kleines Staubecken angelegt worden war. Dessen Wasser werden wohl in der Wintersaison genutzt, um die Schneekanonen zu füttern, welche heutzutage für eine erfolgreiche Pistenpräparation notwendig scheinen.
Die Passhöhe mit dem grossen Wegweiserblock und der etwas verloren wirkenden Kirche abseits der Strasse in der Alpwiese wurde noch vor acht Uhr erreicht. Gegen Süden hin öffnete sich der Blick auf neue Bergketten, deren Firnfelder in der Morgensonne herrlich glänzten.
Abfahrt vom Col d'Iseran nach Bonneval-sur-Arc
Von der Passhöhe des Col d'Iseran bis nach St-Michel-de-Maurienne standen insgesamt 75 km Abfahrt mit einem Niveauunterschied von ziemlich genau 2000 Metern in Aussicht. Dies nährte die Hoffnung, dass der Aufstieg zum nächsten Pass noch vor der Mittagsstunde in Angriff genommen werden könnte.
Doch vorerst befand ich mich noch in hochalpiner Umgebung und neue Perspektiven mit phantastischen Ausblicken auf ganze Reihen von imposanten Schneebergen ergaben sich fast mit jedem Meter Fahrt durch das Hochtal. Dieses endete abrupt in einer Terrasse zum Haupttal und tief unterhalb der Strasse wurde das hübsch gelegene und siedlungsmässig ganz in sich geschlossene Dorf Bonneval-sur-Arc sichtbar. Diesem näherte man sich in einer weit über den Steilhang gezogenen Strassenschlaufe. Die aus Bruchsteinen gebauten Häuser mit den Schieferdächern und den reichlich mit Blumen geschmückten Holzbalkönchen machten einen derart gepflegten Eindruck, dass man fast ein potëmkinsches Kulissendorf vor sich zu haben glaubte.
Durch das Val Cenis in die Maurienne
Hier im Grunde des Tals der Arc war die Hälfte der Höhenmeter bereits verloren, doch rollte es locker weiter Richtung Lanslebourg-Mt-Cenis, wo ich auf die nach Italien rüberführende Hauptstrasse stiess, welche sich in grossen Serpentinen den linken Berghang empor windet. Ich folgte jedoch weiter dem Tal, welches sich hinter Bramans plötzlich zu einer tiefen und steilen Schlucht verengte. Dieser Engpass wurde noch akzentuiert durch einen Felsriegel, der sich fast im rechten Winkel dem Lauf des Flusses entgegenstemmt. Auf kleinstem Raum sind hier ein halbes Dutzend militärische Festungsanlagen angesiedelt, um den Zugang nach Westen effizient abzuriegeln.
Kurz hinter dieser Barrière erreichte ich das Städtchen Modane, in welchem vorerst einmal die bedeutenden Bahnanlagen hervorstachen. Die durch das Tal heraufziehenden Geleise bilden eine Schlaufe um Modane herum, um dann alsbald in den Tunnel des Col du Fréjus einzutauchen. Bis zur Industriemetropole Turin sind es dann kaum noch 100 km. Seit einem Vierteljahrhundert führt auch die Autobahn durch diesen Berg und der ehemals wichtigste Übergang des Col du Mont-Cenis verlor entsprechend an praktischer Bedeutung.
Ein halber Pass, der Col du Télégraphe, Altitude 1570 m.s.l.m.
Von der Brücke im malerischen Städtchen St-Michel-du-Maurienne hatte ich einen guten Blick auf den nur wenige Kilometer Luftlinie entfernten Télégraphe, der hoch über meinem Kopf auf dem Felsrücken lag. Der nach ihm benannte Übergang ist kein eigentlicher Pass, sondern führt lediglich ins dahinter liegende Hochtal der Valloirette. Es stellte sich aber unwillkürlich die beklemmende Frage, wie man überhaupt dort auf die abweisende Höhe hinauf gelangen könne. Ein Blick in die Karte zeigte die Abhilfe: Zwölf Kilometer kurvenreiche Strasse durch den Wald und über die Alpwiesen südlich von St-Martin-d'Arc und dann eine Traverse nordwärts zum Grat mit der Passhöhe des Col du Télégraphe.
Bevor ich die Rampe in Angriff nehme, stärke ich mich noch ein bisschen und erklimme dann Höhenmeter um Höhenmeter und geniesse dabei die Aussicht zurück auf die schönen Felsfluchten des Grand Perron des Encombres. Dabei zeige ich mich unbeeindruckt durch die vielen Gümmeler, welche nun die Route mit mir teilen und versuchen mir davon zu eilen. Die wenigsten werden bereits einen der grossen Pässe und rund hundert Kilometer hinter sich haben, mal ganz abgesehen vom Unterschied im Gepäck. Erstaunlicherweise kommen viele mir später wieder entgegen, ein Télégraphe war wohl genug für den Tag, man soll ja nicht übertreiben!
Col du Galibier, Altitude 2677 m.s.l.m.
Nach dem kleinen Höhenverlust zwischen dem Col du Télégraphe und Valloire gilt es alsbald wieder Ernst. Jetzt steht der Aufstieg zum Col du Galibier auf dem nachmittäglichen Programm. Nach mehreren Geländestufen, die teils so schöne Namen tragen wie Altisurface de Bonnenuit (noch war es aber nicht Zeit, das Zelt aufzuschlagen) erreicht man das Talende beim Refuge de Plan Lachat. Ab hier lagen noch 700 Höhenmeter und viele Kurven vor mir. Ein Aufstieg über eine kurvige Strasse ist immer abwechslungsreich, weil sich immer neue Perspektiven auftun und speziell hier am Galibier kam noch ein Element hinzu. Etliche Abschnitte der umgebenden Landschaft sind stark durch Erosionsprozesse geprägt und vermittelten ein Bild, welches mich im Entfernten an Kappadokien in Anatolien erinnerte. Die Kurzweile liess beinahe die Anstrengung des Aufstiegs vergessen und ich fand mich fast überraschend am Eingang des Scheiteltunnels am Galibier wieder. Diesen liess ich jedoch rechts liegen und erreichte über eine letzte Schlaufe durch die Geröllfelder schliesslich die Passhöhe des Col du Galibier.
Das Panorama, welches sich mir gegen Süden hin offenbarte kann man fast nur in der Art der Amerikaner charakterisieren: «gorgeous, simply breath taking»! Die dunklen Felswände der zum Massif des Écrins gehörenden Berge standen im schönsten Gegensatz zu den sie kleidenden Gletschern und Schneefeldern, die im Abendlicht leuchteten.
Ein geschenkter Pass, der Col du Lautaret, Altitude 2058 m.s.l.m.
Der herrliche Ausblick auf die umliegenden Berge hätte mich fast davon abgehalten auch einen Blick in die Tiefe unter mir zu werfen. Dieser sollte mir aber zur Freude gereichen, zeigte er mir doch die vielen schönen Kurven der Südrampe des Galibierpasses, die ich in der Folge in schnellem Tempo durchfahren durfte. So sollte es nicht lange dauern und ich stand schon wieder auf der Passhöhe eines bedeutenden Passes, auf jener des Col du Lautaret. Ich hatte ihn allerdings sozusagen durch die Dachlucke erreicht und bekam ihn als Geschenk für die Anstrengungen des Tages. Als Übergang von Grenoble nach Briançon im oberen Tal der Durance spielt er eine wichtige Rolle und zeigt auf dieser Route natürlich seinen wahren Charakter. Die Abfahrt über seine Ostrampe und durch das schöne Tal der Guisane stand mir jedoch noch vollumfänglich zu Gute und auf der guten Strasse mit langen geraden Abschnitten geriet diese mir teilweise zur rasanten Fahrt.
Briançon und das Briançonnais
Die Stadt Briançon mit der beindruckenden Silhouette grüsste schon von weitem im Lichte der untergehenden Sonne. Als Besonderheit des Ortes fiel auf, dass sämtliche Anhöhen rund um die Stadt mit grossen Festungen besetzt sind, welche den Weg vom und zum Col de Montgenèvre, einem weiteren wichtigen Übergang ins Piemont und nach Turin, abzuriegeln versuchen.
Trotz der fortgeschrittenen Stunde und der Tatsache, dass hier die Etappe der Tour de France zu Ende ging, entschloss ich mich noch zu einer kleinen Zusatzschlaufe und fand im Tal der Cerveyrette ein wirklich herrliches und einsames Plätzchen hoch über einem das Tal abschliessenden Stausee im Pinienwald. Ein grosser und auch grossartiger Tag neigte sich hier zu Ende.
Noch liegt der Schatten der Nacht über Val d'Isère Noch liegt der Schatten der Nacht über Val d'Isère
Kirche auf der Passhöhe des Col de l'Iseran Kirche auf der Passhöhe Wegweiser auf der Passhöhe des Col de l'Iseran des Col de l'Iseran
Bonneval-sur-Arc im Süden des Col de l'Iseran Bonneval-sur-Arc im Süden des Col de l'Iseran
Schlucht der Arc bei Modane Arcschlucht bei Modane Festungen über der Arc-Schlucht Festungen über der Arc
St-Michel-de-Maurienne mit Grand Perron des Encombres St-Michel-de-Maurienne mit Grand Perron
Blick von St-Martin d'Arc zum Télégraphe Blick von St-Martin d'Arc hoch zum Télégraphe
Tourismusort Valloire zw. Col du Télégraphe und Col du Galibier Tourismusort Valloire zw. Col du Télégraphe und Galibier
Kahle Berge kurz vor der Passhöhe des Galibiers Kahle Berge kurz vor der Passhöhe des Galibiers
Serpentinen in der Südrampe des Col du Galibier Serpentinen in der Südrampe des Col du Galibier
Blick vom Galibier auf die Berge des Massif de l'Écrin Blick vom Galibier auf die Berge des Massif de l'Écrin
Vallée de la Guisane und Briançon Vallée de la Guisane und die Stadt Briançon
Briançon im Lichte der letzten Sonnenstrahlen Briançon im Lichte der letzten Sonnenstrahlen
Abendstimmung hoch über dem Tal der Durance Abendstimmung hoch über dem Tal der Durance
   

Reise Etappen
Von Martigny zum Grand St-Bernard Königsetappe: Schotterpiste des Col du Parpaillon
Grand et Petit St-Bernard und Val d'Isère Durch das Tal des Verdon in die Provence
Grossartige Etappe der Tour de France Durch das Massif des Maures ans Mittelmeer

Foto Gallerien
Impressionen. Momente der Reise festgehalten in 39 Bildern und in getrenntem Fenster angezeigt. Bilderindex
Reise in Bildern. Die in den Textteilen zur Illustration verwendeten Bilder im Grossformat in getrenntem Fenster angezeigt.
Übersicht
Startseite der Westalpen-Tour. Einführung zur Reise durch die Westalpen ans Mittelmeer mit Übersicht und Kurzbeschrieb der einzelnen Etappen.

Heinz Rüegger - 03.02.2008 HOME